jubiläum 2019

1919: nachwirkungen und aktuelle bedeutung

„Die Welt neu denken“ war Leitlinie des Bauhauses und entfaltete sich in einer Zeit, in der die Welt selbst große Umbrüche erlebte. Bereits im Geburtsjahr des Bauhauses 1919 fanden in den zentralen Feldern der Arbeits-, Geschlechter- und Völkerbeziehungen entscheidende Weichenstellungen statt, die die beruflichen, die privaten und die transnationalen Beziehungen veränderten und bis heute nachwirken.

Rationalisierung von Produktion und Arbeit in den 1920er Jahren

1919 gründete sich auf der Friedenskonferenz in Versailles die International Labour Organisation (ILO) mit dem Ziel, durch international zu vereinbarende Arbeits- und Sozialstandards mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen. In Deutschland markierten die Gründung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes und die Anerkennung der Gewerkschaften als legitime Vertreter der Beschäftigten den Beginn der Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern. Die Produktions- und Arbeitsverhältnisse wurden in den 1920er Jahren unter dem Aspekt der Rationalisierung modernisiert; aus dieser Zeit datiert auch die Forderung nach Selbst-Optimierung. Die Rationalisierung der 1920er Jahre gestaltete das Bauhaus ästhetisch und sozialpolitisch mit: Die von Gropius für eine Massenproduktion entworfenen Häuser aus austauschbaren Fertigteilen hießen nicht umsonst „Wohn-Fords“. Mit der „Frankfurter Küche“ und der Erfindung der Haushaltswissenschaften zogen Rationalisierung und wissenschaftliche Betriebsführung auch in die Haushalte ein.

Neuordnung des Geschlechterverhältnisses

Frauen konnten 1919 erstmals wählen. Das neue Wahlrecht definierte auf der politischen Ebene das Verhältnis der Geschlechter neu. Auf der gesellschaftlichen Ebene stellten die Zunahme der Frauenerwerbsarbeit auch unter den Angestellten sowie die Herausbildung neuer Frauenbilder die alten Geschlechterordnungen in Frage. Die grundsätzliche Gleichberechtigung von Männern und Frauen in Deutschland schrieb allerdings erst  Artikel 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland fest, und auch die ILO definierte erst nach dem Zweiten Weltkrieg die Geschlechtergerechtigkeit als oberstes frauenpolitisches Ziel. Die Umsetzung von Art. 3 GG sollte dann allerdings noch weitere Jahrzehnte auf sich warten lassen. Heute sind die den Frauen zugeschriebenen ‚soft skills‘ in den neuen, durch ‚networking‘ geprägten, flexibilisierten und zunehmend digitaler werdenden Arbeitswelten durchaus gefragt. Diese neuen Arbeitswelten zeichnen sich aber gleichzeitig durch Prekarisierung sowie eine zunehmende soziale Ungleichheit aus:  Ihre Feminisierung führte nicht zu mehr Geschlechtergerechtigkeit. Auch beim Bauhaus waren in Punkto Sachen Geschlechterbeziehungen Theorie und Praxis weit auseinandergefallen.

Ende der deutschen Kolonialherrschaft

1919 beendete der Versailler Vertrag die deutsche Kolonialherrschaft. Der Verlust der Kolonien erforderte zunächst eine Neuordnung der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen, die das wirtschaftliche Machtgefälle zwischen Deutschland und Afrika allerdings nicht grundsätzlich veränderte: Es ist bis in die Gegenwart asymmetrisch geblieben. Das koloniale Erbe ist heute vor allem Thema in den Debatten um die Rückführung von Kultur- und Raubgut. Es zeigt sich aber auch in vielen anderen Feldern und Phänomen, zum Beispiel in der Mode- oder Möbelindustrie, wo wir ihm im Ethno-Look oder Kolonialstil begegnen, oder in der anhaltenden Afrika-Begeisterung im Film, wo der Kontinent als Schauplatz und Sehnsuchtsort fungiert. Früher wie heute steht Afrika für eine besonders deutliche Ausprägung des „Anderen“, und das faszinierte auch das Bauhaus, wenngleich der schwarze Kontinent in seinem Schaffen nur eine untergeordnete Rolle spielte. Ein Austausch von Ideen und Formen zwischen Europa und Afrika findet jedoch seit langem statt, und an der Herausbildung der Moderne hatte auch die afrikanische Kunst einen Anteil.
Wie die Bauhäusler und Bauhäuslerinnen mit den Weichenstellungen von 1919 umgegangen sind, welche der neuen Entwicklungen sie für ihr Schaffen nutzbar gemacht haben oder selbst mitgestalteten, wie ihre Utopien konkret aussahen und umgesetzt oder anderswo rezipiert wurden, in welchem Verhältnis Utopien und im Bauhaus gelebte Praktiken zueinander standen, schließlich: welche Weichenstellungen wie bis heute nachwirken, wird im Auftakt-Symposion näher beleuchtet.